Die Lok E69 04 – Berlin? Murnau? Oberammergau?

Vielleicht ist sie die größte »Zicke« unter den deutschen Elloks. Denn irgendwie wusste sie nie so recht, was sie eigentlich war:

Sie war die vierte von fünf Schwestern, gleichzeitig aber auch die Älteste und die Jüngste. Sie war mal groß, dann halb, dann klein. Sie speiste sich mit Drehstrom, um zur Bekanntesten Wechselstrom-Ellok-Familie zu gehören. Sie prägte das oberbayrische Alpenvorland und ist gleichzeitig eine aus Köln eingewanderte Berlinerin. Erst war vorne vorne, dann die Mitte und schließlich doch hinten.
Verwirrt? Nun, versuchen wir das mal ein wenig zu ordnen. Man könnte ein Buch drüber schreiben … huch, das hab ich ja schon zwei Mal gemacht – für Euch hier aber mal die Kurzgeschichte.

Zwischen altem Local- und dem Staatsbahnhof Murnau am oberbayerischen Staffelsee steht ein Lokdenkmal. Es handelt sich um die E69 04 und somit um ein Mitglied der Familie der ersten Wechselstrom-Ellok und somit den »Ur-Omas« des heutigen elektrischen Eisenbahn-Betriebs. Am 5. Januar 1905 war es die die Bahnstrecke Murnau – Oberammergau, auf der zum ersten Mal mit Einphasen-Wechselstrom planmäßiger Zugbetrieb zum Einsatz kam. Also mit jenem Stromsystem, mit dem heute noch Deutschland und halb Europa den Eisenbahnverkehr betreibt.

Für den Betrieb waren zwar zunächst Triebwagen vorgesehen, doch schon bald tauchte die erste E-Lok auf, der in den nächsten Jahren zwei weitere folgten und bald schon den gesamten Verkehr nach Oberammergau übernahmen.

Im Juni 1921 stießen bei einem Frontalzusammenstoß die Lok 1 und 2 zusammen und waren für Monate außer Gefecht. Es galt nun, schnell nach Ersatz zu suchen. Und nun kommt unsere »Zicke« ins Spiel. Eine Anfrage bei Siemens führte zur wohl schnellstmöglichen Problemlösung. Hatte der Hersteller doch »auf dem Hof« in Spandau was »rumstehen« …

Zeit – einen »Break« zu machen. In eine Zeit, wo der Betrieb Murnau–Oberammergau noch nicht den Weg in die Zukunft wies, sondern eben jene Zukunft des elektrischen Zugverkehrs noch gesucht wurde. Elektrischen Eisenbahnbetrieb gab es Ende des 19. Jahrhunderts natürlich schon, vor allem als Straßenbahnen in großen Städten. Alle diese fuhren mit Gleichstrom, eine Technik die sich anlagenmäßig leicht installieren ließ und auch auf den Fahrzeugen selbst überschaubare Einrichtungen benötigte. Allerdings waren in kurzen Abständen Unterwerke für die Stromnetze nötig, was den Einsatz »über Land« auf langen Strecken unrentabel machte. So experimentierte man um die Jahrhundertwende mit Drehstrom. Dieser ließ sich auch über lange Distanzen verlustfrei einspeisen.

Zur Erprobung dieser Technik installierte ein Firmen- Konsortium (u.a. mit Siemens & Halske) zwischen Marienfelde und Zossen eine Teststrecke. Dort eingesetzte Triebwagen erreichten Geschwindigkeiten über 200 km/h! Außerdem wurde eine etwa 19 Meter lange Lokomotive, gefertigt 1901 von van der Zypen & Calier (Köln) und Siemens & Halske erfolgreich eingesetzt. Die Ergebnisse dieser Versuche waren, dass Drehstrom zwar leistungsstark wäre, die elektrischen Außenanlagen für einen Eisenbahnbetrieb aber zu aufwendig sind. Die Versuche wurden gegen 1905 eingestellt. Die Fahrzeuge wurden bis dahin in einer Werkstätte direkt am U-Bahnhof Gleisdreieck gewartet und hinterstellt.

Nach dem Ende des Versuchsbetriebs wurde die lange Lok nun – es waren wohl wilde Zeiten – in der Mitte zerteilt, so das zwei Lokhälften mit Endführerstand entstanden. Siemens plante daraus zwei Werksloks für die eigene Güterbahn in Spandau zu basteln. Die Idee war wohl gar nicht so schlecht, fuhr doch eine dieser Lokhälften tatsächlich bis in die 80er Jahre als Siemens-Güterlok #3 zuverlässig zwischen Kabelwerk und Nonnendamm. Heute steht diese Lok als Exponat im Technikmuseum in den Lokschuppen des Anhalter Bahnhofs.

Das Gegenstück kam schließlich als Unfall-Hilfe im Jahr 1922 zur Ammergauer Bahn und wurde als LAG 4 eingereiht. Anders, als die Berliner Hälfte, bewährte sich die als Wechselstrom-Lok ausgerüstete Halblok in Bayern jedoch überhaupt nicht. Bereits im Frühjahr 1930 trennte man sich im Ammertal wieder von dieser Maschine, nachdem mit LAG 5 eine neue Lok angeliefert wurde.

Die überflüssige Lokhälfte schließlich wurde jahrelang in München-Thalkirchen in der Hauptwerkstätte der Localbahn AG abgestellt. Als 1934 erneut Lokbedarf auf der Oberammergauer Strecke aufkam, entsann man sich dieses Lokteils. Allerdings wurde ein neues Fahrzeugteil, das nun den anderen Loks ähnlich sah, angefertigt und nur einzelne Teile der alten Berliner Maschine in den Neuaufbau integriert.

Mit Verstaatlichung der Bahn gelangten die nun fünf Ammergauer Loks 1938 zur Reichsbahn und wurden als Baureihe E69 eingereiht. Die Lok mit Berliner Genen hörte nun auf den Namen E69 04. Sie fuhr, zusammen mit ihren Schwestern, weiterhin nach Oberammergau. Aufgrund ihrer historischen Bezüge war sie mit erstem Baujahr 1901 einerseits die älteste, mit ihrem quasi Neubau 1934 gleichzeitig aber auch die jüngste Vertreterin ihrer Sippe.

Ihr Ende kam dann ohne eigenes Verschulden im Winter 1977. Noch immer waren die kleinen Loks, inzwischen älteste Baureihe der DB, für den Gesamtverkehr nach Oberammergau zuständig. Als sich die Schwester 169 003 nur wenige Tage nach einer neuen Hauptuntersuchung einen Motorschaden zuzog, sollte diese Lok zunächst ausgemustert werden. Da diese aber beim Personal deutlich beliebter und zuverlässiger war, als unsere ehemalige Versuchslok, musste 169 004 am 22. April 1977 mit eigener Kraft ins AW Freimann einrücken, um dort einen ihrer Motoren der Schwester zu spenden. Die »4er« wurde am 29. September 1977 ausgemustert. Aufgrund ihrer geradezu unbeschreiblichen Geschichte blieb sie jedoch als Denkmal erhalten. Seit 1997 steht sie nun wieder in Murnau und ist sichtbares Symbol einer technischen Entwicklung für den Europäischen Eisenbahnverkehr, der in Murnau seinen Anfang nahm.

Weil die Lok mehr als nur ein »totes Denkmal« sein soll, kümmern sich engagierte Eisenbahnfans um das Exponat. In den Sommermonaten lässt sich die Lok an jedem zweiten Sonntag unter fachkundiger Betreuung besichtigen.

Die Schwesterloks 169 002, 003 und 005 blieben noch bis 1981 auf der Stammstrecke – 75 Jahre verwendbar für den ursprünglichen Dienstzweck. Eine unglaubliche Erfolgsgeschichte. Zwei Loks sind auch heute noch betriebsfähig und in Koblenz (DB Museum, 169 003) und Landshut (Bayerischer Localbahn Verein, 169 005) im Einsatz.

Die Modellbahnindustrie widmete sich den Murnauer Lokzwergen ebenfalls. Schon früh gab es von Fleischmann die HO-Modelle für E69 02 und 03, später die gleichen Maschinen von Roco. Vor einigen Jahren erschien E69 02 bei Märklin/Trix, E69 03 bei Brawa und E69 05 bei Fleischmann. Nur »Exoten-Status« hatten E69 01 und die »halbierte Lok« LAG 4 bei Westmodell.

Meine Bücher über die Loks und die Bahnstrecke Murnau–Oberammergau sind leider derzeit ausverkauft. Vielleicht haben Sie ja in Bucharchiven noch Glück:
Bernd Mühlstraßer: Murnau–Oberammergau und die E69, GeraNova-Verlag
Bernd Mühlstraßer: Die Baureihe E69, Eisenbahn-Kurier-Verlag
Kontakt Bernd Mühlstraßer: 169003@gmx.de

Wir danken herzlich dem Autor Bernd Mühlstraßer für den interessanten Text und die Fotos!